„Markt“ ist eines unserer Schwerpunktthemen in enera. Doch was steckt eigentlich dahinter und welche Vorteile hat ein Flexibilitätsmarkt gegenüber dem klassischen Strommarkt? Und überhaupt, was hat ein normaler Verbraucher damit zu tun?

Das Handelsgeschäft für Strom funktioniert mit Orderbüchern

Im Millisekundentakt blinkt es auf den Bildschirmen in der 21. Etage des Bremer Weser Towers, hier sitzt die EWE TRADING. In bunten Farben leuchten dort Chartsignale auf, Zahlen tauchen aus dem Nichts auf, aktualisieren sich laufend und verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. All das geschieht innerhalb einer streng definierten Struktur, der sogenannten Orderbücher. Jedes Blinken signalisiert eine veränderte Order oder ein Handelsgeschäft im europäischen Energiemarkt.

Einige Beobachter mag dies an den Film Matrix erinnern, in denen eine virtuelle Welt durch grüne Zahlenkolonnen vor schwarzem Hintergrund dargestellt wird und man sich fragt, wer dieses System interpretieren soll. Genauso wie im Film Matrix gibt es aber Experten, die mit einem kurzen Blick auf den Bildschirm verstehen, wie die derzeitige Situation aus Stromangebot- und Nachfrage in Deutschland ist:

„Jedes rote Blinken bedeutet, dass gerade ein Handelsgeschäft für Strom stattgefunden hat. In der letzten Minute wurden z.B. 240 MW Stromlieferung zum Preis von 48,32 €/MWh für Deutschland im Zeitraum 13-14 Uhr gehandelt" erklärt Short-Term Händler Paul Terres. Hinter solch einem Blinken stehen dann Lieferverträge für Strom im Wert von vielen Tausend Euro. Der Preis ändert sich sofort, wenn sich die Angebots-/Nachfragesituation verschiebt – zum Beispiel dann, wenn der Wind plötzlich stärker weht als gedacht und der kurzfristige Überschuss die Preise binnen Sekunden in den Keller schickt.

Das System virtueller Orderbücher wirkt hypermodern, ist aber so etwas wie der Dinosaurier der Digitalisierung. Zu Beginn der 1970er wurden bereits die ersten elektronischen Orderbücher durch große Börsen geschaffen und verdrängten ihre analogen Vorläufer innerhalb weniger Jahre fast vollständig.

Die Energiewende wird durch neue Marktmechanismen im Orderbuchhandel unterstützt

Im Energiemarkt hat sich der Orderbuchhandel in den letzten Jahren zum Standard für den kurzfristigen Stromhandel entwickelt. Organisiert wird der Handel durch die Pariser Strombörse EPEX SPOT mit der EWE Anfang Februar eine wegweisende Kooperation eingegangen ist. Allen Anlagen aus einer großen Region (einer sogenannten Regelzone) wird dabei ein spezielles Orderbuch zugewiesen. Die Information, wo genau in dieser Regelzone die Anlagen stehen, spielt auf dem Marktplatz heute keine Rolle. Im Energiehandel ist nicht einmal bekannt, ob hinter einer Verkaufsorder ein Windrad im Nordwesten Deutschlands oder ein Gaskraftwerk in Bayern steht. „Die Handelsmechanismen sind so aufgebaut, als sei Deutschland eine ‚Kupferplatte‘ ohne Engpässe, auf der beliebig viel Energie in alle Richtungen ausgetauscht werden kann. Den tatsächlichen Energiefluss orchestrieren dann die Netzbetreiber, die notfalls auch direkt Anlagen ein- oder abschalten dürfen.“

Im Zuge der Energiewende gerät das System der Kupferplatte immer stärker an seine Grenzen. Zunehmend wird Strom nicht mehr direkt dort produziert, wo er konsumiert wird. Und da Deutschland in der Realität nun mal keine Kupferplatte ist, sondern Stromleitungen durch Siedlungen, Wälder und Gebirge gezogen werden müssen, dauern Planung und Ausbau von Leitungen häufig viele Jahre.

In der enera Modellregion kann man die Folgen regelmäßig beobachten. Gerade dann, wenn viel Wind weht, stehen die Windräder dort häufig still – die Netze schaffen es einfach nicht, den Strom in die Verbrauchszentren im Süden abzutransportieren, den Netzbetreibern bleibt nur die Abschaltung.

Die Komplexität des Stromhandels steigt

Es soll daher während des enera Projektes erprobt werden, wie diese neue Situation auch im Stromhandel berücksichtigt werden kann. Dafür wird die Strombörse EPEX SPOT im Rahmen des Projekts neue Orderbücher aufbauen, über die in bestimmten Situationen lokale Verbraucher für überschüssigen Strom gesucht werden können. Das bedeutet ganz konkret, dass zum Beispiel Windräder an der Nordsee nicht mehr abgeschaltet werden, sondern Haushaltskunden den Strom zu besonders niedrigen Preisen zur Verfügung gestellt bekommen. Auch Speicher könnten auf diesem Weg eingesetzt werden und günstigen Strom einlagern, bis ein Sturmtief vorbeigezogen ist, die Preise wieder steigen und das Netz in der Lage ist die gespeicherten Mengen in die Verbrauchszentren zu transportieren.

Durch eine Vielzahl neuer, lokaler Marktplätze wird die Komplexität des Stromhandels noch weiter zunehmen und den bereits bestehenden Veränderungsdruck auf den Arbeitsalltag der Stromhändler verstärken. „Das ist nur noch mit Algorithmen zu schaffen, die wir als Händler überwachen“ erläutert Paul Terres. „Manuelles Handeln an der Börse ist eine Seltenheit geworden.“ Während ein Teil des Jobs von Programmen übernommen wird, öffnet sich das ganz neue Tätigkeitsfeld der Data Scientists. Aus Unmengen an Informationen und Daten suchen sie wiederkehrende Muster und entwickeln neue Trading-Strategien. Die Digitalisierung ersetzt nicht den Homo Sapiens, sondern lässt ihn kreativen Input für die Algorithmen von morgen entwerfen. Und wenn die letzten Sonnenstrahlen den Weser-Tower berühren, verschwinden allmählich die bunten Farben und Chartsignale von den Bildschirmen, während in der Nacht die Algorithmen auf vernetzten Server-Landschaften dem Strommarkt Leben einhauchen.

Der Beitrag ist in Zusammenarbeit mit Jan Schallenberg entstanden.