Anfang November 2017: Der Orkan Herwart zieht über den Nordwesten Deutschlands und bringt Pendler und Reisende der Deutschen Bahn zur Verzweiflung. Bäume blockieren die Schienen und umgestürzte LKW die Straßen. Auch die Fähren zu den Ostfriesischen Inseln stellen den Betrieb ein. Zur gleichen Zeit sitzt in der Netzleitstelle der EWE NETZ Thorsten Feikes vor seinem Schaltpult: „Auch in unseren Stromnetzen ist heute eine ganze Menge los!“. Mit der Energiewende sind insbesondere Windkraftanlagen im Nordwesten entstanden, die ihre Energie je nach Wetterlage ins Stromnetz einspeisen. „Solche Situationen kommen immer mal wieder vor. Nur selten werden die vorhandenen Leitungskapazitäten so ausgenutzt wie heute.“

Stromnetz bislang auf Extreme ausgelegt

Rückblick: Im Herbst 2016 wurden in der Krummhörn weitere Windenergieanlagen zur Einspeisung in das Netz von EWE NETZ angemeldet. „Die Bewertung dieser Anfragen macht einen Großteil unserer Arbeit aus - wir bewerten auf Basis der bestehenden Strukturen unserer Netze und den bereits angeschlossenen dezentralen Erzeugungsanlagen, den für Netz- und Anlagenbetreiber kostengünstigsten Anschlusspunkt an unser Netz.

Dabei musste das Netz bisher für die eine Extremsituation ausgelegt werden, die z.B. bei einem Orkan auftreten kann.“ berichtet Werner Mülder, Team Planung und Bau in der Netzregion Ostfriesland. „Mit dem Anschluss dieser Anlagen wäre eigentlich ein teurer konventioneller Netzausbau notwendig. Konventioneller Netzausbau bedeutet zum Beispiel, dass zusätzliche Stromkabel in die Erde gelegt werden müssen, oder dass große Transformatoren getauscht werden.“

Dynamische Spitzenkappung bringt Planungssicherheit

Im Sommer 2016 wurde durch den Gesetzgeber ein Paradigmenwechsel vorgenommen. Die sogenannte Spitzenkappung wurde in das Energiewirtschaftsgesetz und in das Erneuerbare-Energien-Gesetz aufgenommen. „Bislang waren wir verpflichtet das Stromnetz für jede erdenkliche Wetterlage auszulegen. Das wäre so, als wenn jede Autobahn in Deutschland soweit ausgebaut würde, dass zum Ferienbeginn aller Bundesländer kein Stau entsteht. Jetzt dürfen wir Erzeugungsanlagen um bis zu drei Prozent der Jahresenergie – ohne weitere Netzausbauverpflichtung – reduzieren.

Der entscheidende Vorteil dieser so genannten dynamischen Spitzenkappung für uns ist, dass wir als Netzbetreiber eine gewisse Planungssicherheit erlangen, da nicht nur das Einspeiseverhalten sehr volatil ist, sondern auch der Bau der Anlagen vielen Unsicherheiten unterliegt.“, sagt Jan Adrian Schönrock, Leiter des Projektes enera bei EWE NETZ. „Mit der gestiegenen Planungssicherheit können auch die Netze kosteneffizient gebaut werden.“

Automatisierte Netzregler werden erforderlich

Zurück in die Netzleitstelle: Mittlerweile hat der Orkan seinen Höhepunkt erreicht. Jetzt muss Thorsten Feikes eingreifen und das erste Mal überhaupt die Erzeugungsanlagen auf Basis der Spitzenkappung reduzieren, um einer Überlastung der Transformatoren vorzubeugen.

„Wenn wir den Ansatz in der enera Modellregion und bei Erfolg flächendeckend im EWE NETZ Versorgungsgebiet einsetzen, können wir das nicht mehr händisch leisten.“ Hier kommt Riccardo Treydel ins Spiel: „Um die Netzleitstelle zu entlasten, wollen wir in enera anstatt der händischen Lösung die Einspeiseleistung über Netzregler automatisch reduzieren“ sagt der bei enera für den Einsatz dieser Technik verantwortliche Ingenieur.

Die Netzregler sollen dabei möglichst feinfühlig die Anlagenleistung reduzieren und darauf achten, dass alle angeschlossenen Anlagen ihren Beitrag leisten. Getreu dem Motto: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Nach einigen Minuten kann Thorsten Feikes die Reduktion der Anlagen aufheben. Der Orkan nimmt nach und nach ab. Die Spitze ist überstanden.