Autoren: Pascal Pfeifer (FGH)

Betreiber aktiv überwachter und steuerbarer Verteilnetze können zukünftig auf eine Vielzahl von betrieblichen Anpassungsmaßnahmen zurückgreifen, um temporären Netzengpässen – also möglichen Verletzungen des zulässigen Spannungsbandes oder der thermischen Belastbarkeit von Betriebsmitteln – entgegenzuwirken. Neben netzbezogenen Maßnahmen, wie die Stufung von Transformatoren oder Anpassungen der Netztopologie, wird zunehmend auch die Nutzung kundenseitiger Flexibilität diskutiert. Unter Flexibilität wird hierbei die Anpassung von Wirkleistungsbezug oder -entnahme der Netzkunden verstanden. Im Rahmen von enera wird dabei die Nutzung dieser Potentiale durch Flexibilitätsmärkte diskutiert und erprobt. Da die Kontrahierung von Flexibilitätsprodukten mit zeitlichem Vorlauf zum tatsächlichen Abruf erfolgt, muss der Netzbetreiber im Rahmen der Betriebsplanung bereits für zukünftige und somit unsichere Zeitpunkte Entscheidungen treffen. Er steht deshalb vor der Heraus­forderung, den Netzbetrieb unter Berücksichtigung aller relevanten verfügbaren Freiheitsgrade möglichst effizient zu koordinieren, zukünftige Systemzustände und Engpässe zu prognostizieren und hierbei auch Prognose­unsicherheiten zu berücksichtigen. Auf Basis dieser Engpassprognose kann dann eine Entscheidung über mögliche durchzuführende Anpassungsmaßnahmen erfolgen.

Die Ausgestaltung der zukünftigen Betriebsplanung unter Einbezug der zuvor beschriebenen Aspekte wird durch einen Beitrag der FGH im Rahmen von enera simulativ untersucht. Dazu wurde ein entsprechendes Softwaretool entwickelt und angewendet. Ziel der Untersuchung ist die Ableitung sinnvoller Handlungsempfehlungen für die Ausgestaltung der zukünftigen Betriebsplanung. Dies umfasst

  • die Entwicklung geeigneter Verfahrensansätze, auf deren Basis zukünftige Werkzeuge der Netzbetreiber umgesetzt werden können,
  • die Untersuchung und Bewertung geeigneter Anpassungsmaßnahmen zur Gewährleistung eines sicheren Netzbetriebs sowie
  • die Ableitung von Methoden zur Quantifizierung von netzbetrieblichen Unsicherheiten, deren Untersuchung insbesondere aufgrund von Vorlaufzeiten und der geringen Aggregation der Anlagen in der Verteilnetzebene notwendig ist.

Das entwickelte Softwaretool sowie dessen exemplarische Anwendung werden in diesem Lösungsartefakt beschrieben. Durch den simulativen Ansatz können über die enera-Netzregion hinausgehende allgemeine Untersuchungen durchgeführt werden. Diese Untersuchungen wurden anhand von Systemstudien durch die FGH im Rahmen von enera durchgeführt und werden in einem weiteren Lösungsartefakt „Systemstudie zur zukünftigen Betriebsplanung aktiver Verteilnetze (inklusive Verteilnetzgenerierung)“ vorgestellt.

Abbildung 1: Übersicht des entwickelten Verfahrens zur Simulation des zukünftigen Netzbetriebs

Abbildung 1 zeigt eine Übersicht des entwickelten Verfahrens. Eingangsgrößen stellen deterministische Netznutzungsprognosen dar, die für alle zu bewertenden zukünftigen Zeitschritte vorliegen müssen. Die Prognose umfasst alle Erzeugungs- und Verbrauchsanlagen im Netzgebiet und somit beispielsweise die erwartete Einspeisung von Photovoltaik- und Windenergieanlagen. Auf Basis der prognostizierten Netznutzung erfolgen komplexe Leistungsflussberechnungen, wodurch die zu erwartenden Spannungen und Ströme an allen Zweigen und Knoten im Netz bestimmt werden können. Neben dem Basisfall werden weitere Leistungsflüsse für verschiedene Netzschaltzustände – falls diese zulässige kurzfristig einstellbare Topologien darstellen – sowie Ausfälle von Betriebsmitteln mitberechnet. Aufgrund der hohen Unsicherheiten im Hinblick auf zukünftige Systemzustände in der Verteilnetzebene, müssen mögliche Prognosefehler mitberücksichtigt werden. Historische beobachtete Prognose­fehler stellen dabei die Basis zur Abschätzung einer Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion (WDF) möglicher Prognosefehler zur aktuellen Prognose dar. Dazu wird eine Kerndichteschätzung durchgeführt, wobei als Kerne alle beobachteten historischen Prognosefehler, gewichtet nach Ähnlichkeit zur aktuellen Prognose, verwendet werden (Pfeifer, Tran, Krahl, & Moser, 2020). Die WDF ist in Abbildung 1 links beispielhaft für zwei Dimensionen (Prognosefehler Windenergieanlagen und Photovoltaikanlagen) dargestellt.

Durch Kombination von Lastflussrechnung und Wahrscheinlichkeitsverteilung der Prognosefehler der Netznutzung können probabilistische Ströme und Spannungen bestimmt werden. Dies erfolgt approximativ mithilfe der linearisierten Wirkzusammenhänge zwischen Änderung der Leistungseinspeisung und -entnahme der Netzkunden aufgrund von Prognoseabweichungen und den Spannungen bzw. Strömen im Netz. Diese Zusammenhänge können nach Leistungsflussrechnung aus der Jacobi-Matrix abgeleitet werden (Pfeifer, Tran, Krahl, & Moser, 2020). Es erfolgt also eine Linearisierung der Leistungsflussgleichungen am Arbeitspunkt der deterministischen Prognose. Die probabilistischen Größen werden zunächst als WDF der Auslastung aller Betriebsmittel und Spannungen an allen Knoten des Netzes aufgestellt (Abbildung 1, Mitte). Für diese WDF lassen sich anschließend Kenngrößen ableiten, die die maximale Auslastung sowie die minimal und maximal möglichen Betriebsspannungen für definierte Sicherheitsniveaus (SN) festlegen. Der Netzbetreiber kann so etwa die maximale Auslastung einer Leitung ableiten, die unter Berücksichtigung eines in Abhängigkeit seiner Risikopräferenzen zu wählenden prozentualen Anteils aller möglichen zukünftigen Zustände – also unter Berücksichtigung möglicher Prognosefehler – auftritt. Diese Kenngrößen sind dann Eingangsgrößen einer Optimierung, die geeignete Anpassungsmaßnahmen für den Fall prognostizierter Netzengpässe vornimmt.

Berücksichtigte Freiheitsgrade der Optimierung sind dabei die Stufung von Transformatoren, die Anpassung der Blindleistung (z. B. durch Steuerung von Kundenanlagen) sowie die Nutzung von kundenseitigen Flexibilitäten (Abbildung 1, rechts). Mögliche Topologieschaltmaßnahmen können durch Variantenrechnungen ebenfalls berücksichtigt werden. Für die betrachteten Ausfallsituationen werden zudem kurative Anpassungsmaßnahmen (Maßnahmen, die nach Ausfall umgesetzt werden) bestimmt und können so als zusätzliche Informationen für den Netzbetrieb bereitgestellt werden. Die Optimierung basiert auf einem iterativ-linearen Optimal Power Flow (OPF), der ebenfalls die zuvor beschriebene Linearisierung am Arbeitspunkt der Prognose verwendet. Nach Lösung des OPFs und Umsetzung der Anpassungsmaßnahmen erfolgt eine Neuberechnung der Leistungsflussgleichungen und eine erneute Anwendung des OPFs. Das Verfahren endet über ein definiertes Konvergenzkriterium und somit, wenn die Änderungen der Anpassungsmaßnahmen in der letzten Iteration unterhalb einer definierten Schwelle liegen.

Abbildung 2: Eingangsdaten und Parametrierung der exemplarischen Untersuchung

Nachfolgend wird das beschriebene Verfahren exemplarisch auf ein Mittelspannungsnetz angewandt. Für die verwendete Netztopologie sowie die angeschlossenen Netzkunden wird ein Netzdatensatz der EWE NETZ GmbH verwendet. Das Netz ist schematisch in Abbildung 2 dargestellt. Die Leistung der Anlagen ist der Tabelle in Abbildung 2 zu entnehmen. Die EE-Erzeugungsleistung wurde um etwa 20 % ggü. der heutigen erhöht. Der Abgleich von Versorgungsaufgabe und Transformatorleistung legt nahe, dass in Situationen mit hoher EE-Erzeugungsleistung Engpässe durch Rückfluss der Überschussleistung in die überlagerten Netzebenen auftreten können. Die Erkennung und Vermeidung hierdurch bedingter Strom- und Spannungsengpässe werden nachfolgend untersucht. Zeitreihen der Netznutzung, Prognosezeitreihen für Windenergieanlagen (WEA), Photovoltaikanlagen (PVA) sowie Lasten im Netz werden für ein Jahr in viertelstündiger Auflösung synthetisch erzeugt. Die Zeitreihen basieren dabei sowohl auf Messdaten der EWE NETZ GmbH als auch auf Modellen zur synthetischen Zeitreihen, die ebenfalls als Teil des Beitrags der FGH im Rahmen von enera entwickelt wurden (vgl. Lösungsartefakt „Systemstudie zur zukünftigen Betriebsplanung aktiver Verteilnetze“). Um den Einfluss der Vorlaufzeit in der Betriebsplanung zu untersuchen, wurden zwei unterschiedliche Prognosehorizonte (t = 0,5 h, t = 2 h) und damit resultierende Prognosegüten verwendet (vgl. Abbildung 2, rechts unten). Die hier angenommenen Prognosegüten sind dabei eine Abschätzung unter Auswertung von Veröffentlichungen mit Betrachtung verschiedener Aggregationsebenen, Vorlaufzeiten und Prognosekategorien sowie unter Anwendung eigener Prognosemodelle. Die angegebene Prognosegüte (nRMSE: normalized root-mean-square error) beschreibt die normierte Wurzel der Summe quadrati­scher Fehlerterme aller 35.040 Viertelstundenwerte des für die Untersuchung betrachteten Jahres.

Als Freiheitsgrade wurden Flexibilitätsprodukte im pauschalen Umfang von 30 % der EE-Einspeisung sowie, zur Berücksichtigung von flexiblen Lasten, in Höhe von 5 % der momentanen Netzlast angenommen. Zudem wurden 2 MW an weiteren kundenseitigen Flexibilitäten angenommen, die etwa durch PV-Heimspeicher, Elektrofahrzeuge oder Wärmepumpen bereitgestellt werden können. Der Einsatz von Flexibilitäten durch Lastverschiebung und Speicher sind dabei gegenüber einer Anpassung vorrangberechtigter Erzeugungsleistung von EE-Anlagen zu bevorzugen. Als nachgelagerte Notfallmaßnahme wird die vollständige Abregelung der EE-Anlagen berücksichtigt. Zudem sind die Blindleistung der EE-Anlagen im Bereich 0,95ind < cos(ϕ) < 0,95kap sowie die Stufenstellung des HS-/MS-Transformators weitere Freiheitsgrade und ggü. dem Einsatz von Flexibilitätsprodukten bei gegebener Engpasswirksamkeit zu präferieren. Die Optimierung erfolgt unter Berücksichtigung eines Sicherheitsniveaus von 70 % und 90 %.

Abbildung 3: Auslastung der Netzbetriebsmittel vor Optimierung (Prognosehorizont: 30 min)

Die Auswertung der Ergebnisse der Simulationen zeigt, dass zwar Mittelspannungsleitungen des Netzgebiets überlastet werden, die überwiegende Zahl der Engpässe aber am HS-/ MS-Transformator auftritt. Abbildung 3 zeigt dazu in der oberen Darstellung die Auslastung des HS-/ MS-Transformators für den Zustand vor Optimierung unter Berücksichtigung eines Prognosehorizonts von einer halben Stunde für zwei exemplarische Woche im Monat Juni. Der Darstellung sind drei Tage mit möglichen Überlastungen zu entnehmen, wobei die deterministische Prognose hier lediglich im Bereich von 100 % liegt. Unter Berücksichtigung 90 % aller möglicher Zustände sind hingegen Überlastungen > 10 % zu berücksichtigen. Im unteren Teil der Abbildung 3 sind die maximal auftretenden Auslastungen aller Netzbetriebsmittel für den gesamten Jahresverlauf dargestellt. Hier zeigt sich, dass vor allem im Sommer, bedingt durch hohe PV-Einspeisung, Überlastungen zu erwarten sind. Zudem ist festzustellen, dass auch hier eine Berücksichtigung eines höheren Sicherheitsniveaus zu höheren maximal zu berücksichtigenden Auslastungen führt. Der Vergleich mit der deterministischen Prognose zeigt, dass es durchaus mit signifikanten Eintrittswahrscheinlichkeiten zu Überlastungen kommen kann, die bei alleiniger Betrachtung der deterministischen Prognose nicht erkannt werden.

Abbildung 4: Spannungsniveau vor und nach Optimierung an allen Netzknoten (Zeitraum: zwei exempl. Wochen in Juni, Prognosehorizont: 30 min, 90 % SN)

In Abbildung 4 ist das probabilistische Spannungsniveau aller MS-Netzknoten für die zuvor gezeigten zwei exemplarischen Wochen sowohl vor als auch nach der Optimierung dargestellt. Der Status Quo vor Optimierung ist definiert durch eine mittleren Stufenstellung am Transformator, sowie eines einheitlichen cos(ϕ) = 1 für alle Anlagen. Im Wesentlichen durch Anpassung der Stufenstellung und Anpassung der Blindleistung der Erzeugungsanlagen können alle zu erwartenden Spannungsbandverletzungen präventiv behoben werden. Der vorgegebene Zielbereich liegt hierbei zwischen 19 kV und 21 kV. Da diese Maßnahmen ggü. den mit Vorlaufzeit umzusetzenden marktseitig zu kontrahierenden Flexibilitätsprodukten kurzfristig umsetzbar sind, ist kein direktes Handeln im Zeitbereich der Betriebsplanung notwendig. Das Ergebnis der Optimierung dient diesbezüglich als Eingangsinformation für den Betriebsführungsprozess und kann durch nachfolgende Prozesse noch angepasst werden.

Abbildung 5: Umgesetzte Wirkleistungs-Anpassungsmaßnahmen im gesamten Jahr in Abhängigkeit des Prognosehorizonts und berücksichtigten Sicherheitsniveaus

Abbildung 5 zeigt das Gesamtergebnis zu kontrahierender Flexibilitätsprodukte bei Berücksichtigung eines 70 % bzw. 90 % Sicherheitsniveaus unter Beachtung der Vorlaufzeiten von 30 Minuten bzw. zwei Stunden. Die ggü. anderen Flexibilitäten zu benachteiligen Anpassung vorrangberechtigter marktseitiger Flexibilitäten wird dabei separat dargestellt. Es zeigt sich, dass mit zunehmendem Sicherheitsniveau der Umfang der umzusetzenden Maßnahmen erheblich ansteigt. Weiterhin fällt auf, dass der Prognosehorizont im hier untersuchten Beispiel einen erheblichen Einfluss auf die umzusetzenden Maßnahmen bei gleichbleibender Sicherheit hat. Für eine Vorlaufzeit von zwei Stunden führt eine Erhöhung des Sicherheitsniveaus von 70 % auf 90 % zu einer Verdopplung der notwendigen Maßnahmen. Zudem können für diesen Fall beim hier unterstellten Szenario für rund ein Fünftel der notwendigen Maßnahmen keine passenden Flexibilitätsprodukte kontrahiert werden. Bei einer Vorlaufzeit von 30 Minuten können hingegen nahezu alle zu erwartenden Engpässe, die eine Anpassung der Wirkleistung erfordern, durch Kontrahierung marktseitiger Flexibilitätsprodukte präventiv verhindert werden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass unter der netzbetrieblichen Zielsetzung einer möglichst geringen Menge durchzuführender Maßnahmen deshalb eine kürzere Zeitspanne zwischen Kontrahierung und Abruf der Flexibilitäten vorteilhaft ist.

Literaturverzeichnis

Pfeifer, P., Tran, J., Krahl, S., & Moser, A. (2020). Modelling of uncertainty for smart grid congestion management. CIRED 2020 Berlin Workshop.

Tran, J., Pfeifer, P., Krahl, S., & Moser, A. (2020). A deep reinforcement learning approach for simulating the strategic bidding behavior of distributed flexibilities in smart markets. CIRED Workshop. Berlin.