Autoren: Matthias Koch, Markus Haller, Sebastian Palascios und Dierk Bauknecht, Öko-Institut e.V.

Fragestellung

Die hier vorgestellte Modellierungsarbeit beschäftigt sich mit der Frage, welcher Nutzen von dezentraler Flexibilität für das Gesamtsystem bereitgestellt werden kann. Je nach Einsatzverhalten der dezentralen Flexibilitäten kann der Nutzen im Gesamtsystem zum einen im deutschen und europäischen Strommarkt entstehen, indem dort die Stromkosten sinken (strommarktdienlicher Einsatz). Auf der anderen Seite kann auch das Übertragungsnetz in Deutschland von dezentralen Flexibilitäten profitieren, indem diese so eingesetzt werden, dass Netzüberlastungen vermieden oder zumindest reduziert werden (netzdienlicher Einsatz).

Um den Nutzen zu quantifizieren, der durch das oben beschriebene Einsatzverhalten entsteht, wird eine Szenarienanalyse durchgeführt. Die betrachteten und zu Beginn des enera Projekts definierten Szenarien erstrecken sich auf die Jahre 2030, 2040 und 2050 und umfassen jeweils zwei Szenarien aus der Literatur (BMU Klimaschutzszenarien 2050, 2. Runde, Szenario KS80 und KS95) sowie zwei Szenarien die so gestaltet sind, dass sich der Nutzen der dezentralen Flexibilitäten möglichst deutlich („enera best case Szenario“) bzw. möglichst schwach („enera worst case Szenario“) entwickeln kann. Die beiden Haupteigenschaften der Szenarien sind dabei der Anteil an fluktuierenden Erneuerbaren Energien (ein höherer Anteil führt zu einem höheren Flexibilitätsbedarf) und der Verfügbarkeit von zentralen Flexibilitätsoptionen (zentrale und dezentrale Flexibilitätsoptionen stehen auch in Konkurrenz zueinander). Weitere Informationen zu den enera Szenarien sind in dem Lösungselement „enera Roadmap und enera Szenarien“ enthalten.

Vorgehensweise

Modellbeschreibung und Methodik

Im Rahmen der Szenarienanalyse wird das bereits bestehende europäische Strommarktmodell PowerFlex-Grid-EU des Öko-Instituts eingesetzt und weiterentwickelt. In diesem Modell werden Kraftwerke, Speicher und Flexibilitätsoptionen kostenminimal eingesetzt, um die Stromnachfrage zu decken. Das Einsatzmodell ist als lineares Optimierungsproblem formuliert und in der Software GAMS (General Algebraic Modeling System) implementiert. Das Optimierungsproblem wird mit Hilfe des CPLEX Algorithmus (Simplex Algorithmus) gelöst.

Die zeitliche Auflösung des Optimierungsproblems beträgt eine Stunde, der Betrachtungszeitraum liegt bei einem Kalenderjahr (d. h. 8760 Zeitschritte). Die einzelnen Kraftwerke, Speicher und Flexibilitätsoptionen werden im Modell detailliert mit Hilfe technischer und ökonomischer Parameter abgebildet.

Das Übertragungsnetz wird für Deutschland einschließlich der geplanten HGÜ-Korridore aus dem Netzentwicklungsplan Strom 2030 (Version 2030) mit rund 450 Netzknoten berücksichtigt. Die Aufteilung der Lastflüsse im deutschen Drehstromnetz wird mit Hilfe einer so genannten PTDF-Matrix[1] bestimmt.

Jedes der oben beschriebenen 12 Szenarien wird dabei in 4 verschiedenen Varianten gerechnet, so dass sich insgesamt 48 Modellläufe ergeben:

  • Variante 1 (Referenzfall): Es wird ein kostenminimaler Einsatz von Kraftwerken und Speichern bestimmt. Dezentrale Flexibilitäten sind noch nicht verfügbar.
  • Variante 2 (strommarktdienlicher Einsatz): Es wird ein kostenminimaler Einsatz von Kraftwerken und Speichern bestimmt. Die dezentralen Flexibilitäten kommen als weitere Akteure hinzu.
  • Variante 3 (netzdienlicher Einsatz): Aufbauend auf den Einsatzprofilen aus Variante 1 werden die dezentralen Flexibilitäten so eingesetzt, dass die Leitungsüberlastungen im deutschen Höchstspannungsnetz minimiert werden. Die dezentralen Flexibilitätspotenziale stehen dabei mit ihrem kompletten Potenzial zur Verfügung.
  • Variante 4 (strommarkt- und netzdienlicher Einsatz): Aufbauend auf den Einsatzprofilen aus Variante 3 werden die dezentralen Flexibilitäten so eingesetzt, dass die Leitungsüberlastungen im deutschen Höchstspannungsnetz minimiert werden. Die dezentralen Flexibilitätspotenziale stehen dabei nur mit einem reduzierten Potenzial zur Verfügung, welches nach dem strommarktdienlichen Einsatz noch für den netzdienlichen Einsatz verbleibt.

Definition der dezentralen Flexibilitätsoptionen

Die dezentralen Flexibilitätsoptionen setzen sich in dieser Analyse aus Folgenden Technologien zusammen:

  • Lastmanagement: Nachfrageseitige Flexibilität wird für private Haushalte, den Sektor Gewerbe, Handel und Dienstleistungen, das smarte Laden von Elektrofahrzeugen sowie den smarten Betrieb von Wärmepumpen berücksichtigt. Nähre Informationen sind im Lösungselement „Das Nachfrageseitige Flexibilitätspotenzial in Deutschland – Regional aufgelöst und frei verfügbar“ aufgeführt.
  • Biogas- und Klärgasanlagen: Biogas und Klärgas fallen kontinuierlich über mikrobiologische Prozesse in den Gär- und Faultürmen der Anlagen an. Über einen Gasspeicher und entsprechend groß dimensionierte Blockheizkraftwerke kann die Stromerzeugung aus Biogas und Klärgas so flexibilisiert werden, dass sie als Tagesspeicher eingesetzt werden können.
  • Erdgas BHKW mit Wärmespeicher: Bislang sind Erdgas BHKW meist an einer größeren Wärmesenke installiert (z.B. Schwimmbad, Hotel, Krankenhaus / Pflegeheim oder Mehrfamilienhaus) und werden dort wärmegeführt eingesetzt. Um deren Betrieb zu flexibilisieren sind in jedem Fall ein Wärmespeicher und ggf. auch eine Erhöhung der BHKW-Leistung erforderlich.
  • Batteriespeicher: Insbesondere in Kombination mit einer PV-Dachanlage werden zunehmend Batteriespeicher zur Maximierung des Eigenverbrauchs in dem betreffenden Gebäude installiert.

Diese dezentralen Flexibilitätsoptionen werden dann im Rahmen der Modellierung mit der jeweiligen spezifischen Zielstellung optimal eingesetzt.

Erwartete Ergebnisse

Strommarkt

Mit Hilfe von Flexibilität sinken die Kosten im Strommarkt, da Kraftwerke mit vergleichsweise geringen Grenzkosten[2] häufiger eingesetzt werden können und Kraftwerke mit höheren Grenzkosten auf entsprechend weniger Einsatzstunden kommen. Dadurch profitieren zuerst die fluktuierenden erneuerbaren Energien Wind, PV und Laufwasser, da deren Grenzkosten sehr gering sind. Erneuerbare Energien liegen deshalb in der Einsatzreihenfolge ganz vorne. Durch (zusätzliche) dezentrale Flexibilitätsoptionen wird deren Systemintegration gefördert bzw. deren Abregelung verringert. Nach den Erneuerbaren Energien werden dann diejenigen Kraftwerke stärker ausgelastet, die in der so genannten Merit Order[3] folgen. Die Merit Order wird im Wesentlichen von den Brennstoff- und CO2-Kosten sowie dem elektrischen Wirkungsgrad der Kraftwerke bestimmt. Von zusätzlicher dezentraler Flexibilität profitieren zunächst Kernkraftwerke und später auch Kohlekraftwerke. Im Gegenzug wird dann häufig die Stromerzeugung von Gas- und Ölkraftwerken reduziert.

Neben den Kosten für die Stromerzeugung sind auch die CO2-Emissionen ein wichtiger Indikator. Im Falle einer Zunahme von EE-Strom und Strom aus Kernkraftwerken gehen die CO2-Emissionen aufgrund der zusätzlichen Flexibilität im Stromsystem zurück. Beim Brennstoffwechsel von Kohle zu Erdgas steigen sie hingegen an. Aufgrund des europaweit stattfindenden Kohleausstiegs im Stromsystem handelt es sich hierbei um ein Übergangsphänomen für das Szenariojahr 2030. Die positiven Effekte hinsichtlich einer verstärkten EE-Integration nehmen im Laufe der Zeit bis 2050 deutlich zu.

Übertragungsnetz

Typische Überlastungssituationen auf der Übertragungsnetzebene treten auf, wenn eine hohe Einspeisung erneuerbarer Energien und eine hohe Stromnachfrage zeitlich aufeinandertreffen, jedoch räumlich weiter auseinander liegen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn im Norden Deutschlands viel Wind in die Stromnetze eingespeist wird und in den Metropolregionen sowie in Süddeutschland ein hoher Stromverbrauch vorliegt. Dezentrale Flexibilitäten können dann vor dem Netzengpass die Last erhöhen (z.B. durch Lastmanagement oder das Beladen von Batteriespeichern) oder die Stromerzeugung von BHKW senken (z.B. mittels Biogas- oder Wärmespeicher). Gleichzeitig kommt es hinter dem Netzengpass dann zu einer Lastreduktion (z.B. durch Lastmanagement oder das Entladen von Batteriespeichern) oder einer Erhöhung der Stromerzeugung von BHKW. In Summe gleichen sich diese Effekte dann in jeder Stunde aus, räumlich liegen Stromerzeugung und Stromverbrauch dann aber näher beisammen bzw. orientieren sich an der aktuellen Netzauslastung.

Abschließende Dokumentation der Ergebnisse

Die Ergebnisse der Modellierung liegen erst zum Ende der Projektlaufzeit vor und werden in der enera Roadmap ausführlich dokumentiert.

[1] Power Transfer Distribution Factors

[2] Kosten die für das Kraftwerk entstehen, um eine zusätzliche Megawattstunde Strom zu erzeugen.

[3] Einsatzreihenfolge der Kraftwerke, sortiert nach deren Grenzkosten