Autoren: Simon Voswinkel, Jonas Höckner und Christoph Weber (Universität Duisburg-Essen)

Die intensiv geführte Debatte zum Increase-Decrease (Inc-Dec) Gaming im Zusammenhang mit Redispatch-Märkten ist vor allem auf die Veröffentlichung von Hirth und Schlecht (2019) zurückzuführen, in der strategisches Verhalten bei Einführung eines Redispatch-Marktes untersucht wurde. Der regionale Flexibilitätsmarkt, wie er in enera implementiert wurde, kann im weiteren Sinne als eine eigene Ausgestaltungsform eines Redispatch-Marktes gesehen werden, sodass die Problematik des strategischen Verhaltens auch für den enera Flexmarkt gilt. Inc-Dec-Gaming stellt somit grundsätzlich ein Problem dar. Ein Konzept zur Begrenzung des Inc-Dec-Gaming ist Market Monitoring (Marktüberwachung), das nachfolgend näher erläutert wird.

Inc-Dec-Gaming

Als Inc-Dec-Gaming im Allgemeinen wird die Aktivität von Händlern verstanden, sich in Antizipation eines Redispatch-Marktes auf dem Spotmarkt strategisch so positionieren, dass sie ihre Erlöse insgesamt maximieren (vgl. Hirth und Schlecht, 2019). Im Spotmarkt ist der Handel zunächst unbeschränkt, der Engpass wird nicht berücksichtigt. Dies entspricht den aktuellen Gegebenheiten innerhalb Deutschlands. Der Redispatch-Markt dient dazu, im Falle einer durch das Spotmarktergebnis auftretenden Überlastung die Erzeugung so anzupassen, dass die Restriktionen des Netzes eingehalten werden. Dazu muss in einer der Regionen (Überschussregion) die Erzeugung reduziert werden, während in der anderen Region die Erzeugung um den gleichen Betrag erhöht wird. In der Überschussregion verkauft der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) somit Energie an die Erzeugungsanlagen, die dafür nicht selbst erzeugen, und kauft diese Energie von Anlagen in der anderen Region, die dafür erzeugen.

Da der Spotmarkt bereits stattgefunden hat, kann davon ausgegangen werden, dass alle Teilnehmer ihre Erzeugung bzw. ihren Konsum optimiert haben. Um somit in der Überschussregion Strom zu verkaufen, muss der ÜNB dies unterhalb des sich am Spotmarkt vorher ergebenden Marktpreises tun – zum Marktpreis haben alle potenziellen Teilnehmer ihr Verhalten ja bereits optimiert. In der anderen Region muss der ÜNB den Kraftwerken dagegen einen Betrag über dem Marktpreis zahlen – wäre der Marktpreis ausreichend für Erzeugung aus den Kraftwerken gewesen, würden diese bereits auf Basis des Spotmarktergebnisses einspeisen. In der Überschussregion ist somit Energie günstiger zu kaufen als auf dem Spotmarkt, während in der anderen Region Energie teurer zu verkaufen ist als auf dem Spotmarkt.

Um Inc-Dec-Gaming handelt es sich, wenn Marktteilnehmer sich auf diese Gegebenheit einstellen und sich dafür optimieren. Erzeuger in der Überschussregion, die auf dem Spotmarkt aufgrund zu hoher Grenzkosten unter sonstigen Umständen nicht zum Zuge kommen würden, können ihre Gebote auf dem Spotmarkt reduzieren, in dem Wissen, dass sie die verkaufte Energie später günstig wieder zurückkaufen können. In der anderen Region erwarten Erzeuger dagegen höhere Preise auf dem Redispatch-Markt und erhöhen ihre Gebote dementsprechend auf dem Spotmarkt, um diese höheren Preise entweder direkt auf dem Spotmarkt zu erhalten oder aber auf dem Redispatch-Markt zu höheren Preisen zum Zuge zu kommen. Insgesamt wird so in der Überschussregion am Spotmarkt mehr verkauft, da teurere Erzeuger sich in den Markt einpreisen, während das Angebot in der anderen Region zurückgeht, da auf bessere Preise spekuliert wird. Der Engpass wird damit verstärkt und die Behebung des Engpasses über den Redispatch-Markt wird durch das gestiegene Redispatch-Volumen teurer. Zudem werden die Preise am Spotmarkt verzerrt, da Akteure nicht mehr nach ihren Grenzkosten bieten, sondern nach ihren beschriebenen Opportunitätskosten.

Inc-Dec-Gaming im enera-Markt

Ein wichtiger Unterschied des enera-Marktes im Vergleich zum Modell von Hirth et al. ist, dass es sich nicht um einen zweistufigen Markt (Day-Ahead- und Redispatchmarkt) handelt, sondern um einen Flexibilitätsmarkt, der parallel zum Intradayhandel stattfindet.

Abbildung 1: Ursprünglich geplanter Fahrplan ohne Engpassinformation (grün) und Fahrplan bei Inc-Dec-Gaming (orange) (Quelle: Eigene Darstellung)

Um sich dementsprechend auf dem enera-Markt strategisch zu verhalten und für eine sowieso geplante Fahrweise bezahlen zu lassen, müsste vorher eine Baseline übermittelt werden, die eine andere als die eigentlich (ohne Flexibilitätsmarkt) geplante Fahrweise suggeriert (siehe Abbildung 1). Flexibilitätsanbieter müssten also ihre Fahrpläne anpassen, sobald sie einen Engpass erwarten. Dadurch könnte bei dem Vergleich der tatsächlichen IST-Einspeisung mit der Baseline eine Flexibilitätslieferung vorgetäuscht werden, obwohl ohne den enera-Markt die tatsächliche Fahrweise die gleiche gewesen wäre.

Bei einem Verbraucher in der enera-Region sind zwei Varianten des strategischen Verhaltens möglich:

  1. Wenn der Verbraucher einen Engpass aufgrund zu hoher Windeinspeisung erwartet, liefert er eine Baseline, in der er keinen (oder niedrigen) Strombezug für den Engpasszeitraum anmeldet, obwohl er eigentlich (mehr) Strom beziehen würde. Er will sich seinen normalen Strombezug also zusätzlich vergüten lassen. Dies würde bei dem Vergleich mit den historisch gelieferten Fahrplänen auffallen. Bezieht ein Verbraucher zum Beispiel immer zwischen 8 und 18 Uhr eine Leistung X MW und nur in prognostizierten Engpasssituationen weicht der gemeldete Fahrplan davon ab, ist dies ein Hinweis auf strategisches Verhalten.
  2. Ein Verbraucher könnte auf die Idee kommen, Fahrpläne zu melden, die durchgängig keinen Bezug anzeigen. So würde der gemeldete Fahrplan nicht nur zu Engpasszeiten, sondern dauerhaft von der eigentlichen Ist-Entnahme abweichen. Dies würde durch den Vergleich mit der historischen tatsächlichen Entnahme der Flexibilität identifiziert werden können.

Nur der erste Fall dürfte ein ernsthaftes Problem darstellen, da der zweite Fall trivial zu erkennen ist.

Market Monitoring als Gegenmaßnahme

Vorausgesetzt, dass die Marktregeln dieses Verhalten verbieten, kann strategisches Verhalten mit Market Monitoring festgestellt werden. Hierfür ist eine Regel essenziell: Die übermittelten Fahrpläne müssen bindenden Charakter haben, also erwartungstreu sein. Sie dürfen zwar aktualisiert werden, der letzte übermittelte Fahrplan muss jedoch eingehalten werden. Ist dies der Fall, lässt sich mit Hilfe statistischer Methoden feststellen, ob erwartete Engpässe zu systematisch unterschiedlichen Fahrplänen führen – ob also die Anbieter immer, wenn Sie einen Engpass erwarten, ihre Fahrpläne anpassen, um für die Beseitigung dieses Engpasses bezahlt zu werden. Dies bedeutet nicht, dass die Fahrpläne in Engpasszeiten gleich den Fahrplänen in engpassfreien Zeiten sein müssen. Es müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden, die die unterschiedlichen Fahrpläne zu Engpasszeiten erklären könnten, wie z.B. niedrigere Strompreise. Je vielfältiger die Faktoren sind, welche die Fahrweise der betrachteten Anlage beeinflussen, desto detaillierter muss auch das Market Monitoring werden. Bei einer Power-to-Gas-Anlage oder einem Speicher mögen der Strompreis und Regelleistungsbereitstellung als Erklärung für die Fahrweise ausreichen; bei einer industriellen Last, welche Teil einer größeren Prozesskette sein kann, ist dies sicher nicht der Fall. Hier müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden. Bei Kühlhäusern dürfte z.B. die Außentemperatur einen großen Einfluss auf die Fahrweise der Kompressoren haben.

Um statistisch valide Aussagen über systematische Abweichungen der Baselines in Engpasszeiten zu treffen, welche sich nicht über die weiteren in das Modell eingehenden Variablen erklären lassen, sind hinreichend viele Beobachtungen notwendig.

Wie in der Abbildung deutlich wird, werden zunächst aus historischen Baselines und weiteren möglichen Einflussgrößen prognostizierte Baselines für Engpasszeiträume erstellt. Diese können mit den gemeldeten Baselines in diesen Zeiträumen verglichen werden. Jede einzelne prognostizierte Baseline muss keine hohe Prognosegüte für einen konkreten Zeitpunkt bieten und wären somit nicht für eine direkte Berechnung der Grenzkosten von Flexibilitäten für einen konkreten Zeitpunkt geeignet. Über den Vergleich vieler Prognosen mit vielen in Engpasszeiten gemeldeten Baselines können jedoch statistisch valide Ergebnisse über systematische Abweichungen erzielt werden.

Wird eine systematische Abweichung der gemeldeten Fahrpläne durch das Modell identifiziert, müssen in den Marktregeln festgelegte Sanktionen greifen. Dies kann zum Beispiel den Ausschluss eines Händlers vom Flexibilitätsmarkt oder hohe Strafzahlungen zur Folge haben. Vergleichbare Regelungen sind bereits zur Unterbindung von strategischem Verhalten umgesetzt worden (vgl. Großbritannien, Transmission Constraint License Condition des britischen Regulierers Ofgem) und entfalten bereits durch ihre Existenz eine abschreckende Wirkung („Regulatory Threat“).

Fazit

Der enera Flexmarkt demonstriert, dass sich mit Hilfe eines lokalen Flexibilitätsmarktes Engpässe marktbasiert auflösen lassen und bietet somit eine Möglichkeit, die von der EU präferierte Lösung eines marktbasierten Engpassmanagements zu erproben. Dabei kann die Übermittlung von Fahrplänen und die Messung von Ist-Werten zur Erkennung von unerwünschtem Verhalten, insbesondere in Form von Inc-Dec-Gaming, genutzt werden. Im Rahmen des Projekts wurde Market Monitoring in Kombination mit sachgerechten Marktregeln, die entsprechende Sanktionsmöglichkeiten beinhalten, als Konzept zur Vermeidung von strategischem Verhalten im enera Flexmarkt erarbeitet.

Literatur

Hirth, Lion and Schlecht, Ingmar, Market-Based Redispatch in Zonal Electricity Markets (2018). USAEE Working Paper No. 18-369. http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3286798