Autoren: Pascal Pfeifer, Jacob Tran (FGH)

Die deutschen Verteilnetze sowie die zugrundeliegende Versorgungsaufgabe sind sehr heterogen ausgeprägt. Lastintensiven dicht besiedelten Regionen stehen seit jeher ländlichen Regionen mit schwacher Stromnachfrage gegenüber. Durch den gesellschaftlich motivierten und politisch geförderten Wandel, weg von einem auf fossilen Energieträgern basierenden Energiesystem, ist vor allem in ländlichen Regionen in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme installierter Leistung von Photovoltaik- und Windenergie­anlagen zu verzeichnen. Weiter ist durch eine zunehmende Elektrifizierung der Wärme- und Verkehrs­sektoren – etwa durch Wärmepumpen und elektrische Kraftfahrzeuge – zukünftig regional mit einer zunehmenden Stromnachfrage zu rechnen. Um eine übergreifende Bewertung der im Rahmen von enera entwickelten konzeptionellen und technischen Lösungen zu ermöglichen, sind über die Modellregion hinausgehende Studien erforderlich, die die entwickelten Lösungen auf ein gesamtdeutsches System übertragen und dabei die regionalen Besonderheiten mitberücksichtigen.

Für die Untersuchung übergreifender Fragestellungen, die netzbetriebliche Aspekte umfassen, sind Netzmodelle notwendig, die neben der Netztopologie auch die Kundenstruktur sowie deren Verhalten abbilden. Durch einen Beitrag der FGH wurden deshalb auf Basis der enera-Szenarien des Öko-Instituts (vgl. Artefakt „enera-Roadmap und enera-Szenarien“) repräsentative Verteilnetze erstellt, die wiederum durch die FGH, aber auch in enera-Systemstudien der Universität Duisburg-Essen als auch des Öko-Instituts, Anwendung finden.

Ein wesentlicher Beitrag der FGH im Rahmen von enera ist die Entwicklung eines Verfahrens zur Simulation des zukünftigen Netzbetriebs aktiver MS- und NS-Netze unter Berücksichtigung einer marktseitigen Erschließung von Flexibilitäten (siehe auch separates Lösungsartefakt). Um den Effekt eines aktiven Netzbetriebs für Gesamtdeutschland zu quantifizieren und grundsätzliche Aussagen abzuleiten, wurde die entwickelte Betriebssimulation im Rahmen einer Systemstudie auf die modellierten repräsentativen Netze angewandt. Die Netze unterscheiden sich hierbei regional und in Abhängigkeit des betrachteten Szenarios insbesondere durch den Umfang an Unsicherheiten zukünftiger Netzzustände sowie den verfügbaren kundenseitigen Flexibilitäten.

Die Erstellung der synthetischen repräsentativen Verteilnetze sowie deren Anwendung im Rahmen der Systemstudie werden im Folgenden näher beschrieben.

Erstellung repräsentativer Verteilnetzmodelle

Daten zur Topologie deutscher Verteilnetze sind Betriebsgeheimnisse der Netzbetreiber und deshalb nicht umfassend öffentlich zugänglich. Zudem ist eine Verwendung heutiger Netzdaten als Basis der Studien, gerade vor dem Hintergrund der zu betrachtenden Szenarien im Zeitbereich 2030 bis 2050, nicht zielführend. Ein geeigneter Ansatz ist es deshalb, Verteilnetze synthetisch zu erzeugen und dabei sowohl die Vielfältigkeit der Netze und der jeweils zugrunde liegenden Versorgungsauf­gabe als auch deren mögliche zukünftige Entwicklung abzubilden. Hierzu wurde ein Modell entwickelt, welches öffentlich verfügbare Datensätze und Register zur Erstellung regional aufgeschlüsselter Netzkunden und Anlagen verwendet. Diese Daten lassen sich über eine definierte Schnittstelle in Abhängigkeit des betrachteten Szenarios regionalspezifisch anpassen bzw. vorgeben. Um eine realistische lokale Aufschlüsselung innerhalb eines Netzgebietes zu ermöglichen, werden öffentlich verfügbare hochaufgelöste geografische Strukturdaten ausgewertet. Unter Anwendung eines angepassten Tourenplanungsalgorithmus wird letztendlich die Netzstruktur aufgebaut (Tran, et al., 2019).

Abbildung 1: Oben links: Repräsentative Netze der Cluster, oben rechts: Zuordnung der Netze zu den Clustern, unten: Charakteristika der repräsentativen Netze; Quelle der Karten: Openstreetmap.org

Durch die Betrachtung weniger ausgewählter Topologien und Versorgungsaufgaben ist eine Allgemein­gültigkeit der Systemstudie aufgrund der beschriebenen Heterogenität von Netz und Versorgungsaufgabe nicht gewährleistet. Eine Option zur Ableitung allgemeingültiger Aussagen ist die Generierung und Untersuchung aller Verteilnetze. Dies ist jedoch aufgrund des Umfangs – in Deutschland existieren rund 4.500 Mittelspannungsnetzgebiete – und den damit verbundenen hohen Rechenzeiten nicht realisierbar. Dies gilt insbesondere bei Mitberücksichtigung mehrerer Szenarien. Es wurde daher eine Clusteranalyse durchgeführt, um repräsentative Netzregionen abzuleiten, auf deren Basis dann in einem zweiten Schritt synthetische Netzmodelle erstellt wurden. Zunächst sind dazu öffentlich verfügbare Daten für alle 4.500 Netzgebiete als Merkmale zu definieren. Die betrachteten Merkmale umfassen die Fläche des Netzgebietes, den Anteil an Bebauung und Gewerbe, die installierte Leistung von Windenergieanlagen und Photovoltaikanlagen getrennt nach Spannungsebene sowie der abgeschätzte Jahresenergieverbrauch der Haushalte des Netzgebiets. Diese Merkmale formen die Dimensio­nen des Clusteralgorithmus, nach deren Ausprägung die Netze gruppiert werden. Die Durchführung der Clusteranalyse unter Verwendung verschiedener Algorithmen und Clustergrößen sowie unter Einbezug der Szenarien wird in (Pfeifer, Tran, Berns, Krahl, & Moser, 2020) detailliert dargestellt. Abbildung 1 zeigt links die Verortung der resultierenden acht repräsentativen Netze, rechts die Zuordnung aller Netze zu den Clustern und unten die normierte Aufschlüsselung der Merkmale sowie der Häufigkeit der einzelnen Netze. Es zeigt sich eine Durchmischung von seltenen ausgeprägten Netzen (bspw. Netz 1 und 8) und häufigen Durchschnittsnetzen (Netz 2 und 3).  Die über Deutschland verteilten repräsentativen Netze sowie eine nachvollziehbare Zuordnung der Netze zu den Clustern – Städte sind klar erkennbar, ebenso die Aufteilung nach Windenergie im Norden und Photovoltaik im Süden – sprechen qualitativ für ein gutes Ergebnis.

Abbildung 2: Zubaualgorithmus am Beispiel des Netzes 6; Quelle der Karten: Openstreetmap.org

In Abbildung 2 ist exemplarisch das Netz 6 in seiner Grundform für das enera Worst Case Szenario im Jahre 2030 sowie als Zubaunetz für das optimistische enera Best Case Szenario 2050 (vgl. Artefakt „enera-Roadmap und enera-Szenarien“) dargestellt. Um konsistente Entwicklungspfade zu gewährleisten, wurde ein Netzzubaualgorithmus entwickelt, der auf Zubau neuer Anlagen auf Basis der bereits bestehenden Netzstruktur mittels Stichleitungen vornimmt. Für das dargestellte Netz betrifft das überwiegend neu angeschlossene Windenergieanlagen im dünn besiedelten nördlichen Teil des Netzgebiets. Zudem wurden bestehende Netzbetriebsmittel verstärkt, wenn die Auslastung in einzelnen Netznutzungsfällen einen Grenzwert von 125 % Auslastung vor Umsetzung etwaiger betrieblicher Anpassungsmaßnahmen überschreitet.

Für alle berücksichtigten Netzkunden – dies umfasst Windenergieanlagen, Photovoltaikanlagen, Biomasseanlagen, Mittelspannungsverbraucher (bspw. gewerbliche Einrichtungen), Niederspannungsverbraucher (bspw. Privathaushalte oder Gewerbe), Wärmepumpen sowie Elektrokraftfahrzeuge – werden Zeitreihen in viertelstündiger Auflösung für ein Jahr erstellt. Die Zeitreihen basieren dabei u. a. auf regional aufgeschlüsselten Wetter- und Temperaturdaten und bilden so räumliche Korrelationen realistisch ab. Unter Einbezug der Zeitreihen und Verwendung typischer Betriebsmitteltypen können für alle Netzdatensätze anschließend Leistungsflussberechnungen erfolgen. Die Topologie der Netze wird auf Basis dieser Rechnungen bei auftretenden deutlichen Überlastungen zusätzlich durch Parallelleitungen und ‑transformatoren verstärkt.

Der resultierende Datensatz umfasst dann 96 verschiedene Netztopologien (8 repräsentative Netze für 3 Stützjahre und 4 Szenarien) inkl. Zeitreihen der Netznutzung. Der erzeugte detaillierte Datensatz stellt gegenüber dem typischen Vorgehen von Forschungsprojekten eine Besonderheit des Projektes enera dar. Anstatt in typischen Kategorien – etwa städtisch, vorstädtisch und ländlich – zu denken, werden mehr Details und so die Vielfalt tatsächlicher Netze berücksichtigt. Durch Anwendung wissenschaftlicher Methoden zur Auswahl von repräsentativen Netzen wird dabei auch die Grundgesamtheit adäquat berücksichtigt. Der Datensatz stellt so eine geeignete Basis für die durchgeführte Systemstudie dar, die im Folgenden näher beschrieben wird. Darüber hinaus werden die Netzmodelle und Zeitreihen auch Partnern im Projekt zu Verfügung gestellt, wodurch in den übergreifenden Systemstudien konsistente Aussagen gewährleistet werden.

Quantifizierung der Auswirkungen eines aktiven Verteilnetzbetriebs für ganz Deutschland

Im Rahmen einer Systemstudie wird das im Artefakt „Entwicklung eines Softwaretools zur Simulation des zukünftigen Netzbetriebs aktiver MS- und NS-Netze“ beschriebene Verfahren auf den zuvor vorgestellten Untersuchungsrahmen angewandt. Ziel dieser Untersuchung ist es, die Auswirkungen eines aktiven Verteilnetzbetriebs für ganz Deutschland zu quantifizieren und dabei den Einfluss möglicher netzspezifischer und somit regionaler Besonderheiten auf die auftretenden Engpässe und durchzuführenden Anpassungsmaßnahmen zu bewerten. Erste Ergebnisse aus der Systemstudie werden nachfolgend vorgestellt.

Abbildung 3: Leistungsflüsse über HS/MS-Umspannstation, Auswertung stündlicher Mittelwerte eines Jahres

Zunächst wird in Abbildung 3 eine Auswertung der Leistungsflüsse über die HS/MS-Umspannstationen für alle Netze für die Jahre 2030 und 2050 gezeigt. Gegenübergestellt werden jeweils die enera Best Case (BC) und enera Worst Case (WC) Szenarien. Die Box-Plot-Diagramme zeigen an den Whisker jeweils die Maximalwerte und in den Boxen die mittleren 50 % der Daten. Positive Werte sind hierbei als Nettoleistungsbezug des Netzes zu verstehen. Zu sehen ist, dass in den enera Best Case Szenarien sowohl die rückgespeiste Energie in Starkeinspeisesituationen als auch die bezogene Energie in Starklastsituationen deutlich zunimmt. Zu erkennen sind zudem die Unterschiede in den jeweiligen Netzen. In städtischen Netzen nimmt die Last durch die Zunahme an Elektrokraftfahrzeugen sowie Wärmepumpen zu. In ausgedehnten ländlichen Netzen sind höhere Rückspeisemengen zu verzeichnen, die durch den Zubau an EE-Anlagen begründet werden können. Das Netz 6 nimmt hierbei aufgrund der erheblichen Mengen an Erzeugungsleistung von Windenergieanlagen eine Sonderrolle ein.

Nachfolgend werden die Ergebnisse durch Anwendung des Verfahrens zur Simulation des Netzbetriebs vorstellt. Dazu wurde angenommen, dass Flexibilitäten aufgrund von Verschiebepotentialen bei der Aufladung von Elektrofahrzeugen, der Nutzung von Wärmepumpen und Heimspeichern anteilig zu 50 % ihrer Maximalleistung zu Verfügung stehen. Darüber hinaus wird auch eine Anpassung der Leistung der EE-Anlagen als marktseitige Flexibilität betrachtet. Dies erfolgt, aufgrund der unsicheren Einspeiseprognose zum Zeitpunkt der Angebote, mit einem pauschalen Abschlag und somit nur in Höhe von 50 % der zu dem Zeitpunkt prognostizierten Einspeisung. Zudem wird der Einspeisevorrang der EE-Anlagen berücksichtigt, indem Flexibilitätsprodukte auf Basis von abgeregelter EE-Erzeugungsleistung mit einem pauschalen Kostenfaktor von 3 beaufschlagt werden. Weiterhin wird die vollständige Abregelung der EE-Anlagen als nachgelagerte Notfallmaßnahme berücksichtigt, die im Falle nicht hinreichender Flexibilitätsprodukte die Netzsicherheit gewährleistet.

Für alle Netze und Szenarien werden Prognosezeitreihen für die Dimensionen Last, Windenergie und Photovoltaik erstellt. Diese dienen als Eingangsgröße für die Netzbetriebssimulation. Um den Einfluss der Vorlaufzeiten der Betriebsplanung zu untersuchen und so den Effekt verschiedener Marktzeitpunkte der Flexibilitätsmärkte zu bewerten, wurden zwei Prognosen für verschiedene Prognosegüten und -horizonte erstellt und betrachtet. Eine Prognose höherer Güte mit einer durchschnittlichen Wurzel der Summe der mittleren Fehlerquadrate (root-mean-square-error, RMSE) von 3,8 % (entspricht einem sehr kurzfristigen Prognosehorizont typischerweise < 1 h) sowie eine Prognose niedrigerer Güte mit einem durchschnittlichen RMSE von 9 % (entspricht etwa einem Prognosehorizont von wenigen Stunden). Zudem wird ein Sicherheitsniveau von 90 % unterstellt.

Abbildung 4: Umfang angepasster Energie nach Typ für die Netze 5 und 6 (Sicherheitsniveau: 90 %, Zeitraum: 1 Jahr)

Abbildung 4 zeigt die im simulierten Jahreslauf kontrahierten Mengen an Flexibilitätsprodukten, getrennt nach vorrangberechtigter Erzeugungsleistung aus EE-Anlagen und sonstigen marktseitigen Flexibilitäten etwa aus flexiblen Lasten und Speichern. Zudem wird der Einsatz nachrangiger Notfallmaßnahmen ausgewiesen. Betrachtet werden das durchschnittlich ausgeprägte Netz 5 sowie für das ländliche, ausgedehnte und windintensive Netz 6 für die Jahre 2030 und 2050 jeweils für die enera Best Case und enera Worst Case Szenarien. Die Untersuchung verwendet dabei die Prognose für einen Prognosehorizont < 1 h. Zunächst ist für beide Netze für das Jahr 2050 im enera Best Case Szenario ein erheblicher Mehrbedarf an netzbetrieblichen Anpassungsmaßnahmen festzustellen. Dies ist insbesondere auf den massiven Ausbau der EE-Anlagen aber auch durch den Zubau an neuartigen Lasten zurückzuführen. Für das Netz 5 zeigt sich, dass der überwiegende Bedarf an Maßnahmen durch nicht vorrangberechtigte Flexibilitätsprodukte gedeckt werden kann. Der Anteil an Flexibilität, der technisch ein Abregeln der vorrangberechtigten Erzeugungsleistung auf Basis von EE-Anlagen erfordert, ist hingegen gering. Dies gilt insbesondere für die enera Best Case Szenarien. Durch die Unterschiede der Netznutzung und Netztopologie ergeben sich je nach Netz stark unterschiedliche Bedarfe an Anpassungsmaßnahmen. So ist im windgetriebenen ländlichen Netz 6 der Anteil an vorrangberechtigter Flexibilitäten deutlich höher – aus dem einfachen Grund, dass hier keine hinreichenden alternativen Flexibilitätspotentiale verfügbar sind.

Abbildung 5: Notwendige Wirkleistungs-Anpassungsmaßnahmen in Abhängigkeit des Prognosehorizonts, Durchschnitt über beide betrachtete Szenarien (Sicherheitsniveau: 90 %, Zeitraum: 1 Jahr)

Abbildung 5 zeigt zusammenfassend für beide hier betrachteten Netze durchschnittlich über beide betrachteten Szenarien die angepasste Energie für den gesamten Jahreslauf. Gegenübergestellt werden dabei die Vorlaufzeiten der Betriebsplanung von t < 1 h sowie von t im Bereich weniger Stunden. Es fällt auf, dass der Prognosehorizont bereits im Stützjahr 2030 einen erheblichen Einfluss auf den Umfang umzusetzender Maßnahmen hat. Dies gilt insbesondere für Netze mit hohen Anteilen dargebotsabhängiger EE-Erzeugung. Während im durchmischt genutzten Netz 5 eine vergleichsweise geringe Zunahme der notwendigen Anpassungsmaßnahmen festzustellen ist, fällt die Zunahme beim windgeprägten Netz 6 mit über 60 % sehr deutlich aus. Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass unter der netzbetrieblichen Zielsetzung einer möglichst geringen Menge durchzuführender Anpassungsmaßnahmen generell eine kürzere Zeitspanne zwischen Kontrahierung und Abruf der Flexibilitäten vorteilhaft ist, der zusätzliche Bedarf an Anpassungsmaßnahmen bei höherer Vorlaufzeit dabei aber stark von den jeweiligen Netzen abhängt.

Literaturverzeichnis

Pfeifer, P., Tran, J., Berns, M., Krahl, S., & Moser, A. (2020). Modellierung robuster repräsentativer synthetischer Mittelspannungsnetze. 16. Symposium Energieinnovation, Graz.

Tran, J., Wirtz, C., Pfeifer, P., Wursthorn, D., Vennegeerts, H., & Moser, A. (2019). Modelling of synthetic power distribution system in consideration oft the local electricity supply task. 25th International Conference on Electricity Distribution, Madrid/Spain.