Autoren: Dr. Hauke Thaden (EWE AG)

Digitalisierung des Energiesystems als Schlüssel zu neuen Erkenntnissen

Die Corona-Pandemie ist wohl ohne Übertreibung das dominanteste Thema im Jahr 2020. Jede und jeder ist auf die ein oder andere Weise betroffen. Das private Umfeld ist gekennzeichnet von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, Home-Office und Home-Schooling. Industrie und Gewerbe erleben vorübergehende Schließungen, stark veränderte Auftragslage und große Unsicherheiten.

Klar ist, dass sich die Maßnahmen zur Eindämmung von Corona auch auf den Energieverbrauch, privat wie gewerblich, auswirken. Doch worauf müssen sich Energieversorger einstellen? Noch bis vor kurzer Zeit wäre diese Frage – wenn überhaupt – nur teilweise in der Retrospektive zu beantworten gewesen. Denn während große industrielle Endkunden häufig schon in der sogenannten Lastgangmessung (viertelstundescharfe Messung des Stromverbrauchs) sind, wird der Verbrauch von kleineren Gewerbestandorten und Privataushalten in der Regel nur mit der Jahresabrechnung erfasst. Die tatsächlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Energiebranche werden somit frühestens einige Monaten nach dem Ausbruch sichtbar. Die Energieversorger sind also im Privatkundensektor auf Erfahrungswerte und Schätzungen angewiesen – in einem Pandemie-Szenario, für das es in diesem Ausmaß noch gar keine Erfahrungen gibt. Auf der anderen Seite ist es aber aus betriebswirtschaftlicher und infrastruktureller Perspektive wichtig, frühzeitig auf diese Effekte zu reagieren, z.B. um den Einkauf und die Erzeugung von Energie auf den veränderten Verbrauch abstimmen zu können.

Abhilfe schaffen hier Smart Meter oder Auslesemodule für moderne digitale Stromzähler. Mit dieser Technologie ist es möglich, den Stromverbrauch praktisch in Echtzeit auszulesen. Im Rahmen des Energiewendeprojekts enera wurden mehrere hundert Haushalte mit derartigen Auslesemodulen ausgestattet. In Zeiten von Corona erweist sich diese Datenquelle als besonders wertvoll. Im Rahmen einer Studie mit mehr als 200 Haushalten konnte das EWE DataLab dank der digitalisierten Erfassung des Stromverbrauchs genau quantifizieren, wie sich der Energiebedarf durch die einschränkenden Corona-Maßnahmen entwickelt hat.

In dieser Studie wurde in den teilnehmenden Haushalten zunächst der tägliche Stromverbrauch ausgewertet. Dabei wurden Arbeitstage (Mo-Fr) und Wochenenden unterschieden. Im nächsten Schritt wurden diese Werte zum Stichtag 16.03.2020 (Start der Schul- und Geschäftsschließungen in Deutschland) miteinander verglichen. Tabelle 1 und Abbildung 1 zeigen die wesentlichen Ergebnisse.

Tabelle 1: Mittlerer täglicher Energieverbrauch vor und nach dem 16.03.2020. In Klammern: 95%-Konfidenzintervalle

Art des Tages

Mittlerer Verbrauch vor dem 16.03.2020 in kWh

Mittlerer Verbrauch nach dem 16.03.2020

Prozentuale Änderung

Arbeitstage

10,55

[10,46; 10,66]

11,00

[10,88; 11,12]

+4,3 %

Samstag

11,49

[11,26; 11,72]

11,48

[11,18; 11,77]

-0,1 %

Sonntag

11,94

[11,71; 12,17]

11,34

[11,05; 11,63]

-5,0 %

Wochenende

11,72

[11,56; 11,89]

11,41

[11,20;11,62]

-2,6%

Gesamt

10,91

[10,83; 11,00]

11,11

[11,00; 11,21]

+1,8 %

Insbesondere an Arbeitstagen ist ein deutlicher Anstieg um 4,3% erkennbar. Während der Energieverbrauch an Samstagen praktisch unverändert ist, konnte sonntags ein verringerter Verbrauch identifiziert werden. Tatsächlich hat sich der Verbrauch bei 42 % der untersuchten Haushalte vom Wochenende in die Arbeitswoche verschoben. Nur 14 % der Haushalte dagegen zeigen eine Verschiebung in Richtung Wochenende. Bei den restlichen 44 % hat sich die zeitliche Struktur nicht wesentlich verändert.

Rechnet man den insgesamt erhöhten durchschnittlichen Energiebedarf eines Haushalts auf ein Jahr hoch, so ergibt sich ein mittlerer Mehrverbrauch von 73 kWh. Das entspricht in etwa dem Jahresverbrauch eines effizienten 150 l-Kühlschranks bzw. je nach Strompreis Mehrkosten von ca. 20 €.  

Es ist sicherlich kein überraschendes Ergebnis, dass sich der Energiebedarf privater Endkunden erhöht, wenn in vielen Haushalten Home-Office, Kinderbetreuung und Co. zum Alltag werden. Die genaue Quantifizierung hilft aber einerseits dem Energieversorger dabei, frühzeitig und angemessen auf diese Veränderung zu reagieren. Andererseits bekommt der Endkunde eine Abschätzung darüber, wie sich die Corona-Pandemie auf die Stromrechnung auswirken wird. Darüber hinaus ermöglicht eine flächendeckende und zeitnahe Erfassung des Stromverbrauchs bessere Vorhersagen und dadurch eine bedarfsgerechte Steuerung des Energiesystems.

Auch wenn eine Studie in diesem Umfang sicherlich nicht repräsentativ für alle deutschen Haushalte (oder gar darüber hinaus) sein kann, zeigt sich hier deutlich, wie wichtig die Digitalisierung des Energiesystems ist.

Abbildung 1:Durchschnittlicher Tagesverbrauch der untersuchten Haushalte (werktags) pro Kalenderwoche (oben). Prozentuale Änderung des werktäglichen Verbrauchs im Vergleich zur Vorwoche (unten). Die wesentlichen Einschränkenden Maßnahmen wurden in KW 12 (16.03.2020) eingeführt.

Durchschnittlicher Tagesverbrauch der untersuchten Haushalte